Einmal um die Welt – zu Fuß

Von Ulrich Tatje

Vor einiger Zeit wurde ich auf eine Ansichtskarte aufmerksam, die in meine Sammlung zum Thema Zeitung passen könnte.  Auf der Vorderseite war ein Mann abgebildet mit Mütze, Stock, umgehängter Trinkflasche, Rucksack sowie kleinem Handgepäck. Im kurzen Text unter dem Bild wurde erläutert, dass dieser Josef Holzapfel Korrespondent der Leipziger Zeitschrift „Nach Feierabend“ sei und sich am 19. Oktober 1909 auf den Weg einer dreijährigen Weltreise zu Fuß gemacht hat. Ein Frankfurter Club mit der ominösen Abkürzung E. G. W. S. R.  hatte dafür ein Preisgeld von 60 000 Mark ausgelobt (Abb. 1).

Abbildung 1 (Postkarte, Bildseite)
Abbildung 1 (Postkarte, Bildseite)

Wer war dieser Josef Holzapfel? Was war „Nach Feierabend“ für eine Zeitschrift? Was hat der bayerische Weltumwanderer auf seiner Reise erlebt? Kam er gesund nach Hause und hat er die Wette gewonnen? Viele Fragen, auf die ich eine Antwort suchte. Ich erhielt einige, es bleiben aber hier und da Zweifel.

Es müsste doch einfach sein, etwas über einen Weltumwanderer vor gut 100 Jahren zu finden. Schließlich gab es in jenen Tagen nicht sehr viele solcher Abenteurer. Aber weit gefehlt. Die Suche im Internet erwies sich als ausgesprochen schwierig. Nur wenige andere Menschen hatten sich, möglicherweise inspiriert durch Jules Vernes 1873 veröffentlichten Abenteuerroman „Reise um die Erde in 80 Tagen“, auf ein ähnliches Abenteuer eingelassen. Anton Hauslian aus Wien gelang die Weltumrundung zusammen mit seiner Frau und seinem Kind zwischen 1900 und 1908. Am 12. Mai 1908 soll er in Hamburg eingetroffen sein, nach 49800 Kilometern, auf denen er 104 Paar Schuhe verbraucht haben soll. Seine Frau sei während der achtjährigen Reise gestorben, heißt es auf chroniknet.de.  Auch Artur Winterfeld und der Kroate Micules, so schreibt es der Regensburger Historiker Dr. Roman Smolorz, machten sich auf den Weg.

Im 1997 erschienen Heft 18 der Geschichtsblätter des Geschichtsvereins für den Landkreis Deggendorf beschreibt Smolorz unter der Überschrift „Joseph Holzapfel und seine Wanderung durch Ost- und Südosteuropa“ die Reise und das Leben des Abenteurers ausführlich. Holzapfel ist am 21. Februar 1879 in Mietzing, Gemeinde Deggenau, im heutigen Landkreis Deggendorf, als Sohn des Schneiders Alois Holzapfel und seiner Frau Walburga geboren, die beide aus Sohl, einer Gemeinde im heutigen Landkreis Regen stammen. Joseph hatte noch sieben Geschwister, er selbst war das dritte Kind.

Nach der Schule machte Holzapfel eine Ausbildung im Gasthof Zur Neuen Post in Viechtach und ging anschließend auf Wanderschaft. Er arbeitete in Köln, nach dem Militärdienst zog es ihn in die Schweiz, danach besuchte er Belgien, Holland und England sowie mehrere Städte in Deutschland. In Hamburg heuerte er als Steward bei der Schifffahrtslinie Norddeutscher Lloyd sowie bei der Hamburg-Amerika-Linie an. 

Im Jahr 1909 erfuhr Holzapfel, so schreibt es Smolorz, von der Auslobung eines Preises von 60 000 Mark durch den Frankfurter Sportverein „Austria“ (für die auf der Karte genannte Abkürzung E. G. W. S. R. habe ich keine Erklärung) für denjenigen, der es schafft, innerhalb von drei Jahren zu Fuß die Welt zu umwandern (mit Ausnahme der Überfahrten von Japan nach Amerika und von dort nach Europa).  Der Wanderer dürfe keine Waffen bei sich haben und kein Geld. Er müsse von dem leben, was er sich unterwegs verdienen könne und durch den Verkauf von eben jenen Postkarten, die ihn selbst in Wanderausrüstung darstellen sollten.  Zwei Kandidaten meldeten sich, doch Holzapfels Mitbewerber zog in letzter Minute seine Anmeldung zurück. Also machte sich der Niederbayer Holzapfel am 19. Oktober 1909 ohne einen Konkurrenten auf den Weg.

Der führte ihn durch diverse europäische Länder, bevor er an der Dreikaisergrenze in Myslowitz über das österreichische Galizien sowie Russland, Rumänien und Bulgarien ins Osmanische Reich kam. Die Reise des 30Jährigen konnte anhand der Reisebücher nachvollzogen werden, die Holzapfel bei sich hatte und in denen er mit Stempeln und Unterschriften in Städten und an Grenzübergängen seinen Aufenthalt oder seine Durchreise bestätigen ließ. Diese Reisebücher hatte ein Neffe Holzapfels 1971 dem Deggendorfer Archiv übergeben.

Holzapfel wanderte dann erneut durch das zaristische Russland und von dort nach Persien, wo er die langsam ausbrechenden Unruhen des Jahres 1911 sowie mysteriöse Blutprozessionen beim Aschurafest miterlebte. Die Strecke von Bombay nach Kalkutta (Luftlinie: knapp 1700 km) legte er in nur vier Wochen zurück und kam über Birma nach China. Dort erlebte er die Einsetzung des reformfreudigen Königs auf den Thron am 13. November 1911 mit.

Anfang 1912 war er in Japan, wo er in Yokohama ein Erdbeben und in Osaka einen großen Brand miterlebt haben soll, bei dem 12 000 Häuser zerstört wurden. Von Japan fuhr er Ende Januar 1912 mit dem Schiff nach San Francisco. Nordamerika (mehr als 4000 km) durchquert er in nur gut sechs Monaten. Von der Ostküste der USA aus bringt ihn der Schnelldampfer „Kronprinz Wilhelm“ des Norddeutschen Lloyd, auf dem er als Aufwäscher arbeitet, wieder nach Deutschland, wo er (das vermutet Smolorz) am 25. August 1912 in Hamburg eintrifft, also innerhalb der vom Frankfurter Sportclub geforderten Frist. Zehn Tage zuvor wurde in Hoboken, einer Stadt am Hudson River gegenüber von Manhattan und Hafen für die Schiffe des Norddeutschen Lloyd, die abgebildete Karte abgestempelt, die Onkel Georg an Friedel Jaeger in Gettorf bei Kiel geschickt hat (Abb.2).

Abbildung 2 (Postkarte, Rückseite)
Abbildung 2 (Postkarte, Rückseite)

Smolorz hat allerdings weder in Hamburger noch in Frankfurter Zeitungen in jenen Tagen einen Hinweis darauf finden können, ob der Verein seinen Helden feierte und ob er ihm die versprochenen 60 000 Mark übergab.  Was ungewöhnlich erscheint angesichts eines Preisgeldes, das in etwa dem 30fachen Jahresgehalt eines Angestellten in jenen Vorkriegsjahren entsprach. Wobei völlig unklar bleibt, mit welcher Motivation dieser Club die Wette ausgerufen hat und woher das Geld stammte. Wenig glaubhaft erscheint mir auch die Tatsache, dass sich angeblich nur zwei Personen um die 60 000-Mark-Wette beworben haben sollen.

Außerdem müsste die fristgerechte Rückkehr des Weltreisenden Josef Holzapfel ein spektakuläres Medienereignis gewesen sein, denn seine Reise war ein außergewöhnliches Abenteuer. Man darf davon ausgehen, dass er selber auch ein großes Interesse an einer Berichterstattung über ihn und seine Abenteuer gehabt hat, denn schließlich bezeichnete er sich auf seinen Postkarten selber als Korrespondenten. Ob der niederbayerische Abenteurer allerdings je etwas für die Zeitschrift „Nach Feierabend“ geschrieben hat, konnte ich nicht herausfinden. Er hätte sicherlich ausreichend berichtenswerten Stoff gehabt, seien es seine diversen Gefängnisaufenthalte, seine Eindrücke von den Menschen und ihren Gebräuchen, der Städte und Dörfer, dem Leben in den jeweiligen Ländern sowie diversen Naturereignissen und politischen Umwälzungen.

Abbildung 3: Vignette 1 Million Abonnenten
Abbildung 3: Vignette 1 Million Abonnenten

Er hätte auch ein großes Publikum gehabt, denn das von Bernhard Meyer 1899 gegründete illustrierte Wochenblatt „Nach Feierabend“ hatte bereits 1905 eine Auflage von 900 000 (!) Exemplaren, die bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges auf exorbitante eine Million (Abb. 3) gesteigert wurde (siehe Artikel „Lesevergnügen mit Versicherungen“ in Heft Nr. 204 der SWK, August 2021). Der riesige Erfolg basiert auf einer Idee, die Meyer von britischen und französischen Blättern sowie dem Verleger der „Leipziger Allgemeine Zeitung“, Paul Kürsten (siehe Artikel „Gezähnte Reklame“ in Heft Nr. 203 der SWK, April 2021), übernahm: Für den Preis von 10 Pfennig pro Heft bekam der Abonnent gleichzeitig eine Versicherung (Abb. 4). Sie zahlte bei Unfalltod oder Vollinvalidität 500 Mark aus. Ab 1905 wurde darüber hinaus eine Teilinvaliditätsversicherung und ab 1908 zusätzlich Sterbegeld eingeführt.

Den Ersten Weltkrieg überlebte Holzapfel als Seesoldat. Nach seiner Rückkehr war er ein angesehener Mann in seinem Heimatort. Das half ihm auch, als er 1924 in Sohl ein „Stiftungsfest der Friedenseinigkeit“ feierte. Bereits vier Monate zuvor hatte er in Passau die „Friedens-Einigkeit“ gegründet, einen Verein, der sich für die Erhaltung des Weltfriedens einsetzte.

Holzapfel führte nach dem Ende des Krieges zunächst ein kleines Lebensmittelgeschäft in Deggendorf und plante weitere Reisen.  1928, im Alter von 49 Jahren, heiratete er die 46jährige Witwe Rosa Winsi. 1938 musste er den Laden aufgeben, die Erlöse reichten nicht mehr aus für das Ehepaar. Während des Zweiten Weltkrieges lebten er und seine Frau vom Hausieren, vom Werben für die „Weltillustrierte“ und von Gelegenheitsarbeiten. In den Jahren der NS-Diktatur stand der zum Volksschädling abgestempelte Holzapfel mehrfach vor Gericht und verbrachte viele Monate in Gefängnissen. Von 1945 bis zu seinem Tod 1950 arbeitete der Abenteurer und Friedensaktivist in seinem eigenen Kiosk in Schaching. Seine Frau starb zwei Jahre danach.

Ein ehemaliger Nachbar Holzapfels berichtete, dass Holzapfel nach dem Zweiten Weltkrieg ein Manuskript seiner Reiseerlebnisse an mehrere Verlage schickte. Und dass eine Veröffentlichung an Papiermangel gescheitert sei.

Quellen:

Roman P. Smolorz, Joseph Holzapfel und seine Wanderungen durch Ost- und Südosteuropa, in Heft 18 der Geschichtsblätter des Geschichtsvereins Deggendorf, 1997

Abonnentenversicherung, de.

Weltumrundung, de.

wikipedia

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