Elsa und Ismail

Die Geschichte beginnt für mich im Frühjahr 2014. Ich sah fünf mit Berliner Sondermarken der frühen 50er Jahre frankierte Briefe, die alle an die gleiche Adresse in Ägypten gingen. Ich kaufte die Briefe und fand in vier Umschlägen noch die Briefe. Liebesbriefe einer deutschen Frau an ihren ägyptischen Freund. Briefe voller Innigkeit und tiefer Vertrautheit.

Die Briefe, geschrieben zwischen Dezember 1953 und Juni 1955 faszinierten mich. Wer war Elsa A., die ihre Briefe mit „Dein Schmückchen“ unterschrieb? Und wer war Ismail. Den Elsa mal „Olla“, mal „Spatzili“ nennt? Warum schrieben sie sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren? Haben die beiden nicht zusammengelebt? Wie und wo haben sie sich kennengelernt? Was ist aus ihnen geworden?

Ich habe viele Fragen. Ich versuche, der Sache auf den Grund zu gehen..

Der pakistanische Verkäufer der Umschläge kann mir auch nicht viel weiterhelfen. Er habe sie auf ebay von einem Ägypter gekauft. Er habe keine weiteren Briefe aus der Korrespondenz zwischen Elsa und Ismail mehr. Elsa A. hat einen ungewöhnlichen Nachnamen. Ich finde 8 Telefonbucheinträge mit diesem Namen in Berlin. Nacheinander rufe ich dort an. Kennen Sie eine Elsa A., die Anfang der 50er Jahre in der …-Straße gewohnt hat? Nein, lautete die Antwort sieben Mal. Einmal bin ich nur mit einem Anrufbeantworter verbunden und lege wieder auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.

Am gleichen Abend gegen 19.30 Uhr klingelt bei mir das Telefon. Ich sehe auf dem Display eine Berliner Nummer. Eine Frau ist am anderen Ende der Leitung, der Stimme nach eine ältere Frau. Ich stelle mich wieder als Sammler vor, der die Umschläge gekauft hat, teilweise mit Inhalt, und nun auf der Suche ist nach der Schreiberin. Ich frage wieder nach Elsa A. in der …-Straße. Was ich von ihr wolle, fragt die Frau zurück. Ich wiederhole mein Anliegen, dass ich die Briefe gelesen habe, sehr intime Briefe. Was ich von ihr wolle, wiederholt die Frau, ihre Stimme wird zunehmend ärgerlicher. Ich spüre, dass ich Elsa A. gefunden habe. Mein Herzschlag nimmt zu. Am anderen Ende der Leitung wird es ruhig. Ich entschuldige mich, dass ich sie mit dieser 60 Jahre zurückliegenden Ereignissen überrasche. Meine Gesprächspartnerin ist Elsa A. Sie müsse sich jetzt erst einmal setzen, sagt sie. Ich auch, sage ich ihr mit nervöser Stimme.

Mein Anruf damals sei zunächst ein Schock für sie gewesen, sagt mir A. ein Jahr später, als ich sie in Berlin treffe. Auch für mich war das telefonische Zusammentreffen ein ergreifendes Erlebnis. Plötzlich spreche ich mit der Frau, deren 60 Jahre alten Liebesbriefe ich gelesen habe und damit mitten in etwas hineingerutscht bin, das sehr intim ist, über das ich nichts wissen dürfte.

Ich wolle ihr die Briefe zurückgeben, biete ich an. Dass ich sie gelesen habe stehe mir eigentlich nicht zu. Langsam legt sich bei uns beiden die Aufregung, wir tasten uns vorsichtig aneinander an. Nach dem Schock scheint Elsa A. die Fassung zurückzugewinnen und Vertrauen in mich zu entwickeln. Sie beginnt von sich und von Ismail zu erzählen.

Meinen Anruf habe sie zunächst erlebt, als sei er ein Zeichen von Ismail, dass er vielleicht doch noch zu ihr kommt. Das Gespräch mit mir habe bei ihr auch ein wenig Freude ausgelöst und Erinnerungen wachgerufen, sagt sie mir ein Jahr später.

Nein, sagt Elsa A. sie und Ismail hätten nicht geheiratet, nicht zusammen gelebt. Sie lebte in Berlin, er in Ägypten. Aber ihre innige Fernbeziehung habe mehr 40 Jahre angedauert, bis zu seinem Tod 1999 im Alter von 74 Jahren. Er hatte damals schon seine Koffer gepackt, war auf dem Weg zu ihr, als er starb. Ismails Schwester habe sie über den Tod informiert. Danach habe sie nie wieder etwas von ihm oder seiner Familie gehört. Sie habe sich immer gewünscht, dass er ihr irgendetwas hinterlassen habe. Aber dieser Wunsch sei nicht in Erfüllung gegangen. Ein Brief, geschrieben nach seinem Tod an seine Familie wurde nie beantwortet.

Elsa A. wurde 1927 in Berlin geboren. Sie hat einen Bruder und eine Schwester. Ihr Vater gilt am Ende des Krieges als verschollen,  ihr Bruder gerät 1943 in russische Gefangenschaft, 1947 bekommt die Familie ein Lebenszeichen von ihm. Anfang der 50er Jahre kommt er zurück, wird Installateur. 2013 stirbt er. Elsa lebt Anfang der 50er Jahre zusammen mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester. Elsa übernimmt die Rolle als Familienoberhaut, sie arbeitet im Ausgleichsamt. Eine Arbeit, die ihr nicht gefällt, zu viel Papierkram, zu öde, wie sie auch in einem der Briefe an Ismail später bekennt. Ein Studium kam aber unter diesen Umständen für sie nicht in Frage. Auch eigene Kinder kommen für sie nicht in Frage nach dem Krieg. „Ich war doch selbst verhungert.“

Brief an Ismail

Elsa A. wird 40 Jahre bei der Berliner Stadtverwaltung  bleiben, an unterschiedlichen Dienstplätzen, die letzten 20 Jahre ihres Arbeitslebens verbringt sie  im Jugendamt. Sie sei nur mit halbem Herzen dabei gewesen, die Arbeit entsprach nicht ihrem Naturell.  Aber es  war eben auch ein sicherer Job, erklärt sie.

Ismail stammt aus einer reichen und strengen ägyptischen Familie mit guten Kontakten zum Königshaus. Nach dem Abschluss als Elektroingenieur schickt ihn die ägyptische Regierung für ein Jahr nach Deutschland. Bei Siemens soll er seine Ausbildung vertiefen.

In einem Café am Ku’damm, eines dieser Tanzcafés mit Tischtelefonen,  lernen Elsa und Ismail, der selber nicht sehr gläubig ist, sich  kennen. Sie verlieben sich ineinander, verbringen viel Zeit zusammen. Und sie schmieden Pläne für ein gemeinsames Leben. Drei Tage nachdem sie eine Wohnung angemietet haben, wird Ismail versetzt. Eine deutsche Christin als Ehefrau des Sohnes: unakzeptabel für die Familie. Er muss nach Paris.

Die Lebenswelten der beiden sind zu unterschiedlich. Hier die städtische Angestellte aus einfachen Verhältnissen, dort der Sohn einer reichen ägyptischen Familie. Seine Familie hätte es nie akzeptiert, dass Ismail eine Deutsche heiratet. Und sie wäre nicht zu ihm nach Kairo gezogen: Sie war selbstständig, stand auf ihren eigenen Füßen und sie hätte es sich nicht gefallen lassen, eventuell eingesperrt, geschlagen oder gar weggeschickt zu werden.     

Die erste Zeit nach der erzwungenen  Trennung war schwer für beide. Eine Krankenschwester folgt ihm aus Paris nach Kairo, eine Ehe wird dennoch nicht daraus. Er sei dreimal verlobt gewesen, immer wieder habe er die Beziehung gelöst. Weder er noch sie waren in ihren Leben verheiratet. Sondern führten eine Fernbeziehung. Er lebte allein, hatte auch eine Ferienwohnung in Alexandrien. 

Ismail arbeitete zunächst als Ingenieur für den Staat. Unter anderem als Vorsitzender der Qattara Hydro and Renewable Energy Authority (QPA),  die ein ehrgeiziges Energieprojekt umsetzen wollte. Dabei ging es darum, die unter dem Meeresspiegel liegende Qattara-Senke mit Hilfe eines 55 Kilometer langen Kanals  mit dem Mittelmeer zu verbinden. Das Wasser in der Senke wäre schnell verdunstet und somit hätte es einen dauerhaften Zufluss gegeben. Die Pläne gehen auf eine Idee des Berliners Albrecht Penck von 1912 zurück. Seit 1964 beriet der deutsche Professor Friedrich Bassler  die ägyptische Regierung in dieser Sache. Den 60 Meter tiefen Kanal wollte das Konsortium mittels  213 Atom-Sprengladungen (mit je 1,5 Megatonnen Sprengkraft) herstellen.  Mit dem Projekt sollten bis zu 6800 Megawatt Strom erzeugt werden.  Die ägyptische Regierung stoppte das Projekt Ende der 1970er Jahre. Später arbeitete Ismail als Diplomat in London.

Ein weiterer Brief an Ismail

Und immer wieder trafen sich die beiden. Vier Jahrzehnte lang. Seinen Sommerurlaub verbringt er gern in Berlin. Und auch außerhalb der Ferienzeit ergreift Ismail jede Chance, die ihm sein Beruf bietet, sich mit Elsa zu treffen. Er besucht sie in Berlin, sie unternehmen gemeinsame Reisen.  Sein Deutsch, noch lückenhaft, als sie sich kennenlernen, wird zunehmend fließend.  Sie lernt auch die beiden Söhne seiner Schwester kennen. Einer von ihnen studierte in den USA und kehrte nach Kairo zurück, der andere arbeitete für eine Bank in Dubai.  

Für die Zeit zwischen den persönlichen Begegnungen müssen Briefe reichen. In ihren teils  hand-, teils Maschine geschriebenen Briefen lässt sie ihren Geliebten teilhaben am Alltagsleben  in Berlin, an Ereignissen in der Familie oder im Freundeskreis.  Und immer wieder beschreibt sie ihre Sehnsucht und ihre Liebe zu ihm. Ihre Briefe kommen offenbar immer bei Ismail an, Pakete gehen manchmal verloren. Eine Arbeitskollegin von ihr, die oft zur Post ging, wenn neue Ausgaben erschienen waren, brachte ihr immer die neuesten Marken mit.  Sie selber hatte zu den Briefmarken keine Beziehung. 

Elsa hat ihre Mutter bis zu deren Tod gepflegt. Und ihr Leben durch Reisen in die USA aufgelockert, wo ihre Schwester lebt. Auch ihren 80. Geburtstag hat sie dort begangen. 

Ein Brief an Ismail

Seit 2010 lebt sie in einer Senioren-Wohnanlage im Südwesten Berlins. Dort steht ein Bild: Elsa und Ismail bei seinem letzten Besuch 1998, ein Jahr vor seinem Tod. Sie ist krank, wird irgendwann gelähmt sein. Eine Operation hat sie wegen der Risiken abgelehnt. Von ihren Mitbewohnern hält sie nicht viel, pflegt keinen Kontakt. Als wir uns in der Cafeteria treffen, erscheint sie mit leuchtend rot geschminkten Lippen, die ihr weiß-blondes Haar kontrastieren. Sie trägt Brille und Hörgerät, eine wollene Hose zum Pullover, hat gepflegte Hände und wache Augen. Ich biete ihr an, die vier Briefe zurückzugeben. Nein, die interessierten sie nicht sehr. Nah kurzem Zögern nimmt sie sie dann doch, blättert darin, liest ein wenig und gibt sie mir wieder zurück. Ja, wenn es Briefe von ihm gewesen wären …. Das einzige was sie interessiere sei die Frage, ob er ihr irgendetwas hinterlassen habe.

„Ich bin mit meinem Leben zufrieden“, resümiert Elsa. Zusammen hätten sie viel erlebt. „Wir haben alle Höhen und Tiefen durchgemacht, auch viel gestritten“, erinnert sie sich.  Nur der Wunsch beider, er möge in ihren Armen sterben, ging nicht in Erfüllung

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